Die Lektion der Riesenmoskito

Doktor Courtejoie in seinem auf europäische Herbsttemperaturen heruntergekühltem Büro
Doktor Courtejoie in seinem auf europäische Herbsttemperaturen heruntergekühltem Büro 

Vor 55 Jahren landete der Mediziner Jacques Courtejoie mit dem belgischen Militär im Kongo – kurz vor der Unabhängigkeit des Landes. Fortan machten sich mit jeder Krise mehr und mehr Europäer aus dem Staub. Doch der Doktor blieb, um über Tropenkrankheiten aufzuklären. Die Geschichte eines unermüdlichen Mannes.

30. Juni 1960. Belgien entlässt den Kongo in die Unabhängigkeit. Friedlich wollten sie die Macht abgeben – ohne das Chaos, in das Länder wie Kenia und Nigeria schlitterten. Doch nachdem kongolesische Soldaten zu meutern begannen und sich die Nachricht verbreitete, dass im Westen des Landes europäische Frauen von Kongolesen vergewaltigt wurden, brach Panik unter den Europäern aus. Tausende ließen sich ausfliegen. In diesen Tagen war es auch, dass sich die belgische Botschaft zum ersten Mal bei einem 30-jährigen Doktor im der Provinz Bas-Congo meldete. Er, Jacques Courtejoie, solle da Land verlassen. Sofort. Für seine Sicherheit könnten sie nicht länger garantieren. Er blieb. 28 Jahre sollten sie sich erneut bei ihm melden. 

Heute ist er ein 83 Jahre alter Mann mit verstrubbelten grauen Haaren. Er lebt noch immer in einem kleinen Städtchen in Bas-Congo, noch immer ohne Frau und Kinder, noch immer grüßt ihn jeder mit „bonjour monsieur docteur“ und noch immer stapft er jeden morgen in kurzen Hosen, Sandalen und mit einem 40 Jahre alten Lederkoffer in der Hand über den Rasen zu seinem „Zentrum zur Förderung der Gesundheit“. Dort teilt er sein schulmedizinisches Wissen. Wortwörtlich: Er gibt Infomaterial zur Vorbeugung von Malaria und AIDS aus, aber auch zu Ernährung, Familienplanung und Arbeitssicherheit. Jeden Abend um 19 Uhr zieht er die Tür hinter sich zu und läuft den Weg zurück über die Veranda in sein einstöckiges Wohnhaus. In dem befindet sich auch ein Gästezimmer, in dem ich für einige Tage übernachtet habe.

Mit dem Militär nach Katanga

Warum sei er er damals nicht mit seinen Landsleuten geflohen, frage ich ihn, als er mir am ersten Abend von der Warnung der Botschaft erzählt hatte. Er lacht auf. „Warum sollte ich?“ Er habe Beschützer gehabt und eine starke Gemeinschaft. Das werde ich den nächsten Tagen schon noch erleben. Für heute würde er sich verabschieden. Dann malt er auf einen Zettel die Zeiten 7, 13 und 19 Uhr, sieben Tage die Woche. Zu den Zeiten würde er essen. Und solange ich sein Gast bin, seine Geschichte erzählen.

Zum nächsten Mittagessen kramt er wieder einen Zettel aus der Tasche seines verschlissenen blauen Hemdes, faltet ihn auseinander: „1958. Ankunft Courtejoie“, kritzelt er darauf. Den Abschluss seines Medizinstudium hatte er erst vor wenigen Wochen gefeiert, da schickte ihn das belgische Militär zu einer einjährigen Schulung nach Antwerpen – um ihn tropenfit zu machen für sein zukünftiges Einsatzgebiet: Katanga im Süden der Kolonie Belgisch-Kongo.

Der junge Rebell

Der Rassismus, den Jacques Courtejoie damals erlebte, sollte sein Leben für immer verändern. „Das war Aphartheid wie in Südafrika“, regt er sich noch heute auf. „Nur nicht offiziell“, Straßen, Schulen, Krankenhäuser – dass sei ja alles schön und gut gewesen, aber das furchtbare Erbe der Kolonialherren sei bis heute ein mentales: „Sie, die Schwarzen seien den Weißen unterlegen, egal wie auch immer sie sich anstrengen würden deren Lebensstil nachzueifern.“ Er schlägt mit der Hand auf den Tisch. Und schweigt. Nie, nie, nie habe er das akzeptieren können, fährt er fort.

Als seine Kollegen wieder einmal in schönen Appartments für Europäer einquartiert wurden, hatte er sich zu den Kongolesen ins Krankenhaus gelegt, brachte kaum ein Auge zu, weil sie eine Totenwache abgehalten haben. Als er zur Post ging, hatte er sich gefälligst in der kurzen Schlange für die Weißen anzustellen gehabt, wartete jedoch in der langen Reihe, die den Schwarzen zugewiesen wurde. Über die empörten Europäer amüsiert er sich immer noch.

Freund statt Diener

Jeden Mittag kocht Phanzu für ihn, kümmert sich um Einkäufe und den Garten. Seine Augenlieder sind dabei immer auf Halbmast, was ihm bei seinen Freunden in der Kindheit den Spitznamen le chinois, der Chinese eingebracht hat. „Phanzu!“ ruft Courtejoie ihn.“Ja. Doktor“, antwortet er und serviert, wie es Hausangstelle im Kongo tun. Doch während sogar bei vielen Kongolesen der Koch danach die Küchentüre hinter sich zu schließen hat, sitzt Phanzu oft mit am Tisch, erzählt und diskutiert. „Bleib ruhig sitzen“, sagt der Doktor zu ihm, als er sieht, wie es sich Phanzu auf seinem Stammplatz bequem gemacht hat, vertieft im Gespräch mit mir über das soziale Netz der afrikanischen Großfamilie.

Als Jacques Courtejoie nach einem halben Jahr nach Bas-Congo, den westlichen Zipfel des Kongos wechselte, war das noch als Tabubruch verschrien. Dann fegte die Unabhängigkeit die alte Ordnung vom Tisch. Überstürzt, wie sich nach kurzer abzeichnete: Meutereien, Rebellionen, Abspaltungsversuche – plötzlich hatte es der Kongo in die westlichen Abendnachrichten geschafft. Schließlich war es Mobuto Sese Seko, der sich 1965 während der Wirren der Anfangsjahre an die Spitze des fragilen Staates putschte. Seine Alleinherrschaft über das Land, das er Zaire taufte, verteidigte er die kommenden 32 Jahre mit allen diktatorischen Mitteln.

Die Riesenmoskito im Gepäck

Der Großteil der ehemaligen europäischen Kolonialelite hatte längst das Weite gesucht. Jacques Courtejoie ist geblieben und übernahm die Leitung des Krankenhauses in Kangu. Noch heute stehen die belgischen Gebäude der einstigen Mission auf einem Plateau: die imposante Kirche, das lehmfarbene Pfarrhaus und das heruntergekommene Verwaltungsgebäude. Zwischen den Wäldern rings herum verstecken sich kleine Dörfer und Felder.

Die Riesenmoskito, die dem Doktor die Lektion seines Lebens erteilte
Die Riesenmoskito – mittlerweile schon etwas mitgenommen

Aus ihrem Hütten kamen die Menschen damals zu ihm – und lachten ihn erst einmal aus. Der überzeugte Schulmediziner hatte ein hüfthohes Aufklärungsplakat gegen Malaria aus Europa mitgebracht. Eine Mücke saugt genüsslich das Blut aus dem Körper eines Mannes. Der Mann ist von Kopf bis Fuß zu sehen. Die Mücke ist halb so groß wie der Mann selbst, zur besseren Veranschaulichung. „Das sei ja schrecklich“, erwiderten die Menschen entsetzt, denen er das Plakat zeigte. „So groß seien die Mücken bei den Weißen?“ Welch ein Glück, dass es diese fürchterlichen Biester nicht in Afrika geben würde, sagten sie erleichtert. Desillusioniert stapfte der Doktor nach Hause. Ohne zu ahnen, dass ihm an diesem Tag die entscheidende Lektion seines Lebens erteilt wurde.

Der Doktor und seine Dolmetscher

Das Plakat hat er aufgehoben. In seinem Büro stapeln sich Aufklärungsbroschüren, Infotafeln, Zeichnungen, Fotos, Bücher, Zeitschriften, Umschläge, Berichte, Briefe und Notizzettel. Mit einem Griff zieht er das vergilbte Plakat aus einer Sammlung anderer hervor. Irgendwie finden wir alle Platz auf den Klappstühlen in dem Büro: Clément Nzungu, der heute das Zentrum leitet, das Organisationstalent Roger Zimuango, der Doktor und ich. „Da ist sie ja, die große Mücke“, sagt er und wischt mit seinem Ärmel des unzählige Male geflickten Hemdes den Staub ab. „Ich habe damals eins gelernt: Ich brauche Menschen, die mir dabei helfen, die Dinge zu übersetzen.“

Clément Nzungu übernimmt das Wort. Der Kongolese ist über 60 Jahre alt, fast 20 Jahre jünger als der Doktor . „Die ganzen Bilder müssen an die Kultur hier angepasst werden“, erklärt er. „Die Hautfarbe zum Beispiel, die musste dunkel sein.“ Gebäude, Fahrzeuge, Flüsse, Pflanzen – alles müsse den Alltag der Menschen widerspiegeln. „Sonst versteht niemand die Botschaft“. Malaria erklären sie heute nicht mit einem einzigen Bild, sondern mit Flipcharts, die den Krankheitsverlauf als Geschichte erzählen.

Die goldenen Jahre

Clément Nzungu und Roger Zimuango sind nicht von Anfang an mit dabei. Aber beide habe miterlebt, wie aus einem kleinen Aufklärungsbüro ein weltweit bekanntes Informationszentrum wurde: Erst haben sie vor Ort Plakate gemalt, Infobroschüren verteilt und Impfkampagnen organisiert. Nach und nach kamen immer mehr Anfragen aus anderen Städten. Courtejoie schrieb Bücher, ließ sie in Kinshsasa drucken und stellte sie zu Mini-Bibliotheken mit Basiswissen für Krankenpfleger und Ärzte zusammen. Sie manövrierten sie in den krisengebeutelten Westen des Landes, schickten sie nach Tansania, Guinea-Bissau oder an die Elfenbeinküste. Es waren die besten Jahre. Die Jahre, in denen Belgien jährlich das Krankenhaus unterstützte – und auch das Gesundheitszentrum ein Teil vom Kuchen abbekam.

Dann bekam Courtejoie erneut einen Anruf von der belgischen Vertretung. Er solle das Land verlassen, Mobuto würde sie verjagen wollen, die letzten Europäer. Das war im Jahr 1988. Der Diktator hatte seit Jahren eine rigorose Politik gegen Ausländer gefahren. Die Kongolesen hat das geeint. Für das Krankenhaus sollte es ein herber Schlag werden. Viele Belgier waren ohnehin nicht geblieben und jetzt würden auch noch die letzten ihres Postens enthoben und das Krankenhaus von kongolesischer Seite geleitet.

Der Anruf, der so vieles veränderte

Doktor Courtejoie sagte abermals: „Ich bleibe“. Dabei war das schierer Zufall: Er wurde zur selben Zeit in Rente gehen. Sein Job als Direktor des Krankenhauses war ohnehin erledigt. Und so schmiedete er einen Plan B: Das Gesundheitszentrum weiterführen – privat, ein paar Kilometer entfernt direkt neben seinem Wohnhaus. Unter zwei Bedingungen, soll er damals gefleht haben: „Wenn ich Wasser und Strom bekomme“.

Von nun an stand die Finanzierung alljährlich auf wackeligem Füßen. Für jedes Projekt müssen europäische Sponsoren angeschrieben werden. Doch es sollte reichen: Mehrere Diesel-Generatoren rumoren heute in einem Schuppen, um das Zentrum mit Strom zu versorgen. Jahr für Jahr brechen Doktor Courtejoie und seine Mitarbeiter nach Europa auf, zu einer Tour zu den Unterstützern in Frankreich, Belgien, Deutschland oder der Schweiz. In all den Jahren haben sie 1 700 000 Bücher an Mediziner verteilt und auf das selbe System gesetzt: Die Infoplakate und Flipcharts werden immer noch mit der Hand gemalt. Das schafft Arbeit und spart die aufwendigen Wege zu Druckereien. „Aber auch wir müssen mit neuen Medien arbeiten“, sagt Roger Zimuango. Ganze Abende sitzt er am Computer, um Filme zu schneiden, gedreht mit Laien, die die Probleme einer HIV-Infektion durchspielen.

Die starke Gemeinschaft

Auf Mobuto folgte Laurent-Désiré Kabila, der das Land in „demokratische Republik Kongo“ umtaufte. Ein Lippenbekenntnis: Er setzte den Raubzug gegen das eigene Volk fort bis er unter mysteriösen Umständen erschossen wurde. Auch unter seinem Sohn Joseph Kabila grassiert die Korruption und von den Rohstoffdeals kommt bei den kleinen Krankenhäusern und Initiativen wie dem Zentrum nicht viel an. „Das System“, seufzt der Doktor, schüttelt mit dem Kopf und starrt für wenige Augenblicke gedankenverloren aus dem Fenster in die tropische Finsternis.

Es ist das letzte gemeinsame Abendessen. Wie üblich holt er ein Zettelchen für die Jahreszahlen aus seiner Brusttasche seines Hemdes. Steht dann aber noch einmal auf und geht zu dem Tisch, auf dem der große, Koffer steht, den er nun seit 40 Jahren jeden Tag mit sich schleppt, klappt die Schnalle auf und kommt mit einem kleinen schwarz-weißen Bild zurück an den Tisch: Eine Palme reckt sich dem Himmel entgegen. Gestützt wurde er einst von einer Holzkonstruktion. „Die Palme“, sagt er und tippt mit seinem Zeigefinger auf das Bild „Das bin ich“. Clément sei die Stütze. „Ich ohne ihn?“, sagt er, als müsse sich selbst hin und wieder die Frage stellen. „Ohne ihn wäre ich schon lange fort.“ Vor ein paar Tagen haben sie das 45. gemeinsame Arbeitsjahr gefeiert. „Deswegen bin ich geblieben“, sagt der Doktor: „Wegen der starken Gemeinschaft.“ 

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Ein Gedanke zu “Die Lektion der Riesenmoskito

  1. Nein, nicht eta ein „Albert Schweitzer unserer Tage“… wer Dr. Jacques Courtejoie erleben darf, ist angerührt von dessen tiefer Menschlichkeit. Nicht die Ausnahme, welche die immer gleichen, alten Rollen festschreibt, sondern der zukunftsweisende Prototyp des Europäers, wie Afrika ihn wohl am besten verträgt – der Zuhörende, Lernende, derjenige, der die Reichtümer Afrikas und Europas zu verbinden sucht…

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